Aus der medizinischen Anwendung ist Borsäure seit den 1980er-Jahren weitestgehend verschwunden, für die Industrie bleibt sie aber ein unersetzlicher Bestandteil. Neben der zentralen Bedeutung für die Oberflächentechnik wird sie zum Beispiel für die Glasherstellung und in der Nuklearindustrie verwendet. Auf Vorschlag der deutschen Bundesregierung steuerte Europa jüngst eine REACH-Autorisierungsverpflichtung für Borsäure an. Inzwischen ist klar, dass bis auf weiteres keine Zulassungsverpflichtung droht.
Am Anfang stand ein Vorschlag von Deutschland und Slowenien. Gemeinsam beantragten sie im Februar 2010 bei der Europäischen Chemikalienagentur ECHA, Borsäure auf die Kandidatenliste für besonders besorgniserregende Stoffe zu setzen. Damit war Branchenkennern klar, dass eine langwierige und streitige Auseinandersetzung beginnen würde. Ermutigt durch die ECHA folgte bereits im Juni desselben Jahres die entsprechende Empfehlung der Europäischen Kommission.
Der damit in Gang gesetzte Prozess drohte die Galvanikbranche vor reale Schwierigkeiten zu stellen. Denn der Autorisierungsprozess ist mit einer großen rechtlichen Unsicherheit behaftet: Da der Erfolg eines Autorisierungsantrags kaum sicher vorhergesagt werden kann – auch nicht von der ECHA – müssten betroffene Unternehmen so lange Investitionen zurückstellen, bis die Autorisierung vorliegt. Darüber hinaus übersteigen die Kosten eines Autorisierungsantrags häufig das Budget der vielen kleinen und mittelständischen Unternehmen in der Galvanikbranche. Laut den Berechnungen der ECHA kostet ein solcher Antrag im Durchschnitt über 200.000 Euro – eine aus der Sicht des ZVO Zentralverband Oberflächentechnik e. V. nicht akzeptable Summe für einen Antrag mit ungewissem Ausgang, an dessen Bewilligung mitunter das Überleben des gesamten Unternehmens hängt.
Der Vorschlag, Borsäure im REACH-Anhang XIV aufzunehmen, war Branchenkennern von vornherein unerklärlich. Zwar ist Borsäure bereits seit längerem als „fortpflanzungsgefährdend“ eingestuft, allerdings kommt in der Praxis eine Exposition von Mensch und Umwelt in grenzwertüberschreitenden Mengen nicht vor. Abgesehen vom natürlichen Vorkommen von Bor und seinen Verbindungen etwa in Gestein, Boden und Wasser, sind die meisten für Endverbraucher relevanten Anwendungsbereiche, bereits durch andere Gesetze, beispielsweise die EU-Biozid- und Kosmetika-Richtlinien, reguliert. Studien belegen überdies eindeutig, dass es über die Jahre keine signifikanten Veränderungen in der Aufnahme von Bor bei der Bevölkerung gegeben hat. Demnach ist die Bor-Exposition gleichbleibend auf die natürliche Hintergrundbelastung zurückzuführen.
Das tatsächlich regulierungswürdige Expositionsszenario für Borsäure sind Arbeitsplätze der Bor verarbeitenden Industrie, zu der auch die Oberflächentechnik gehört. Hier ist es aus Sicht des Zentralverband Oberflächentechnik e. V. (ZVO) angemessen, europaweit einheitliche, durch wissenschaftliche Daten gestützte Arbeitsplatzgrenzwerte zu definieren. Dieses Vorgehen würde die Mitarbeiter der betroffenen Betriebe effektiv und effizient vor gesundheitsschädlicher Exposition schützen. Arbeitsplatzgrenzwerte sind, im Gegensatz zu einer Autorisierungspflicht unter REACH, durch die jahrelange Erfahrung der Betriebe und nationalen Aufsichtsbehörden sehr einfach umzusetzen und zu überprüfen.
Aufgrund dieser bereits existierenden bisher nicht EU-weit bindenden Grenzwerte (zum Beispiel NOAL, LOAEL, REL oder TDI) setzte sich der ZVO bei der EU-Kommission und dem bundesdeutschen Gesetzgeber dafür ein, dass diese sich an den erprobten gesetzlichen Instrumenten orientieren, statt durch ein REACH-Verfahren die industrielle Basis in Europa zu schwächen.
Diese Empfehlung befürworteten auch mehrere EU-Mitgliedstaaten, die seit dem zweiten Halbjahr 2015 ernsthafte Bedenken hinsichtlich einer möglichen Aufnahme von Boraten in die Liste der zulassungspflichtigen Stoffe (REACH Anhang XIV) geäußert hatten. Die EU-Kommission sieht die Gefahren bei der Arbeit mit Borsäure zwar nach wie vor als bestätigt, hat die Entscheidung Borsäure in REACH-Anhang XIV aufzunehmen aber bis auf weiteres aufgeschoben. Als Begründung dafür führt sie die sehr vielfältigen Arten der Verwendung von Borsäure in unterschiedlichen Branchen des verarbeitenden Gewerbes an, welche zu hochkomplexen Zulassungsanträgen führen würden. Diesen Aufschub hat die EU-Kommission inzwischen rechtlich verankert. Eine entsprechende Verordnung wurde am 14. Juni 2017 im Amtsblatt der EU veröffentlicht und tritt am 3. Juli 2017 in Kraft.